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Ein Märchen
(von Daniel Benkmann, worm@daniworm.de)

"Onkel, Onkel! Erzählst du mir eine Geschichte?"

Das Gesicht des Knaben war vor lauter Aufregung ganz rosig geworden und ein breites Lächeln nahm den Großteil seines Gesichtes ein. Der alte Mann legte die Anleitung des Cyberpudels, die er sowieso nie begreifen würde, beiseite und runzelte die Stirn. "Soso, eine Geschichte willst du hören. Hast dein Zeitlimit im Cyberspace wohl mal wieder überschritten, häh? Oder hast du dir etwa einen Virus eingefangen?"

Er blickte besorgt auf den Jungen, der vehement den Kopf schüttelte und wieder begann auf seinen Onkel einzureden. "Ich hab's auf MeiserVisionTM gesehen. Das mit dem Erzählen, meine ich, also daß ältere Verwandte den Kindern immer irgendwelche Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen. Auf der patentierten Cyber-"In"-Skala hat das eine glatte 92 bekommen, stell dir das mal vor! Das muß ich einfach ausprobieren!"

Missmutig fummelte der alte Mann an den Cyber-Kontrollen seines Cyber-Sessels herum. "Soso, eine 92, aha. Und da hast du dir also gedacht, daß dein armer, alter Onkel die Zeit hat, dir irgendeine blöde Geschichte zu erzählen. Soso, aha."

Der Junge zeigte den besten Hundeblick, dem ihm seine Cyber-Gesichtsmuskeln erlaubten und flehte: "Bitte, bitte, bitte, Onkel! Du mußt mir eine Geschichte erzählen, sonst kann ich die nächste Tageseinheit nicht mitchatten."

Der Onkel grunzte, so gut er es mit seinen Cyber-Stimmbändern eben konnte, und räusperte sich. Er hatte ja doch nichts Besseres zu tun (mal abgesehen vom virtuellen Seniorenclub).
"Also gut, Junge, setz dich! Dann erzähle ich dir halt eine Geschichte aus meiner aufregenden Kindheit. Also, das geschah damals bei einer Rollenspielsitzung ..."

Der Alte sah das Gesicht des Kleinen und fügte hinzu: "Ähm, 'Rollenspiel' ist sowas wie die virtuelle Realität, bloß daß du da keinen Computer hast, der dein Hirn mit notwendigen Daten für die virtuelle Welt füttert, sondern einen Kerl namens Spielleiter. Der hat einfach alles erzählt, was nötig war, und die Spieler haben dann etwas benutzt, das man 'Fantasie' nannte, um sich die fiktive Welt vorzustellen. Naja, ist auch nicht so wichtig. Also die Spieler hatten sogenannte Charaktere, die sie sich selbst erschaffen haben und ..."

Mit einem Grinsen unterbrach der Junge den drögen Vortrag. "Oh ja, das kenne ich aus Ultima XXVII The Final Bug! Die Spieler haben sich da also ihre Kämpfer möglichst gut ermogelt und sich die krasse Ausrüstung gegeben, damit sie die Monster auch richtig schön zermatschen können."

Der Onkel winkte ab. "Aber nein! Natürlich haben sich die Spieler nicht um's Verrecken aufgepowert und sich nur die besten Waffen und Ausrüstungsstücke gegeben. Aber auch kein Rollenspieler wäre jemals auf die Idee gekommen, seinen Charakter auf eine dumme Killermaschine zu reduzieren. Nein, im Gegenteil, sie haben sich extra schwache Charaktere mit Fehlern kreiert, die dafür eine interessante Hintergrundstory haben und eine rollenspielerische Herausforderung sind!"

Misstrauisch beäugte der Junge seinen Onkel, als dieser fortfuhr zu erzählen. "Wie auch immer, die Charaktere bekommen also von einem Mann den Auftrag, seine entführte Tochter wiederzufinden ..." Wieder mit freudigerem Gesicht unterbrach der Knabe erneut. "Cool, da haben die aus dem Knacker bestimmt 'ne krasse Belohnung rausgequetscht!"

"Großer Gott nein!", rief da der alte Mann aus. "Der Mann war ja ein alter Bauer und vollkommen verzweifelt. Schließlich sind die Charaktere Helden oder wenigstens herzensgute Menschen, da tun sie sowas natürlich umsonst. Und auch den Spielern liegt es fern, ihre Charaktere nur immer reicher und besser werden zu lassen; nein, sie wollen schließlich einen atmosphärisch schönen Rollenspielabend erleben! Also befragen die Charaktere ersteinmal das halbe Dorf, was natürlich seine Zeit dauert, da es ihnen niemals in den Sinn kommen würde, die Nichtspielercharaktere als bloße Informationszapfhähne auszunutzen. Nein, vielmehr bringen sie ganz nebenbei mit einigen Verwicklungen noch ein Liebespaar zusammen ..."

"Mein Gott, wie langweilig! Wo bleibt denn da die Action?", fragte der Junge.

Genervt erwiderte der Onkel: "Es kommt beim Rollenspiel eben nicht nur auf die bloße Action an, sondern genau auf solche Kleinigkeiten. Die Spieler wissen das und nehmen gerne die Gelegenheiten an, die ihnen der Spielleiter bietet, um solche schönen Nebenplots auszuarbeiten. Also gut, bald stoßen die Charaktere dann auf eine Spur und treffen auf ihrem Weg auf eine Gruppe Orks."

"Die Entführer!", entfuhr es dem Jungen.

"Nein, das ist nur eine Reisebegegnung, denn die Reise hat der Spielleiter natürlich schön ausgearbeitet und die Spieler erfreuen sich an lustigen Begegnungen mit fahrenden Händler oder nehmen die Stimmung durch ausführlichste Naturbeschreibungen in sich auf und ergehen sich dabei in Gesprächen mit ihren Kameraden, in denen sie ihren Charakter weiter ausarbeiten können.", meinte der Greis.

"Na gut", maulte der Neffe, "aber wenigstens gibt's jetzt ein bißchen Action! Sie haben die Orks gnadenlos umgemetztelt, oder?"

Den Kopf schüttelnd erzählte der Alte weiter. "Aber nicht doch! Natürlich haben die Charaktere erst versucht, die Orks durch ein freundliches Gespräch von ihren friedlichen Absichten zu überzeugen. Schließlich wollen die Charaktere ja einen Kampf vermeiden, denn die Spieler können sich gut in ihre Charaktere hineinversetzen und wissen, daß niemand gerne sein Leben aufs Spiel setzt oder eine Verletzung riskiert, selbst wenn er gute Chancen hat zu gewinnen. Die Spieler sehen ihre Charaktere eben nicht einfach als eine Anhäufung von Werten zum Monster totschlagen, weißt du? Sie spielen sie, als seien sie echte Personen, die natürlich auch Schmerzen empfinden können. Nur leider sind die Orks eine kriegerische Rasse und wollen nicht auf die freundlichen Worte hören, so daß es zu einem Kampf kommt."

"Na endlich! Die Charaktere waren doch besser, oder? Sie haben die Orks in Grund und Boden gestampft?", wollte der Junge wissen.

Der Alte seufzte. "Nein, zwar haben sie gewonnen, aber sie haben die Orks natürlich nicht getötet, denn schließlich sind auch sie Lebewesen und unsere Charaktere keine Mörder! Sie haben die Orks durch geschicktes Taktieren und Einsetzen von Schlafgiften und Zaubersprüchen überwältigt und sie dann den nächsten Bütteln übergeben, die sie für ihre Verbrechen eingekerkert haben. Die Belohnung dafür haben sie später dann natürlich dem armen Bauern gegeben, der sie doch viel nötiger hatte als sie. Sie verfolgen dann also ihre Spur weiter, die sie schließlich zu einer Höhle führt, bei der sie zuerst ein wirklich schweres Rätsel lösen müssen, bevor sie hineingelangen können. Dank der Intelligenz der Spieler und gutem Teamwork ist das Rätsel aber schnell gelöst, denn Rollenspieler können wirklich gut Rätsel lösen, und sie kommen zu dem Entführer des armen Mädchens."

"Jetzt sag bloß nicht, daß die den auch nicht gleich abgemetzelt haben. Ich meine, es muß doch irgendeinen doofen Krieger in der Gruppe geben, der gerne Leute ummetzelt!", sprach der Junge leicht genervt.

"Ja, in der Tat, den gab es. Aber durch eindringliche Gespräche mit ihm, gelang es seinen Gefährten, ihn davon zu überzeugen, daß es nicht richtig ist, jeden gleich zu töten. Der Charakter war gleich einsichtig, schließlich hing ja die Gruppenharmonie davon ab. Auch mit Spielern, die erst dachten, beim Rollenspiel käme es nur aufs Feinde abmetzeln an, konnten schnell davon überzeugt werden, daß sie viel mehr Spaß haben, wenn sie richtig rollenspielen und daß sie den anderen den Spaß verderben, wenn sie sich so blöd anstellen. Und beim Rollenspiel wäre auch nie jemand auf die Idee gekommen, es ginge nur um seinen eigenen Spaß, denn den anderen soll es ja auch Spaß machen. Rollenspieler sind nämlich sehr soziale und umsichtige Menschen, weißt du. Und deshalb haben die Charaktere den Bösewicht zuerst in ein Gespräch verwickelt, in dem sich herausstellte, daß er einen Mutterkomplex hatte und psychisch schwer krank war. Nach einer kurzen Diskussion wurden sich die Charaktere schnell einig, was zu tun war. Zwar war einer der Charaktere dagegen, aber er beugte sich ohne zu murren der Mehrheit, wie es sich gehört, und der Bösewicht wurde an ein Kloster übergeben, in dem er genesen sollte. Die Bauerstochter wurde wieder dem überglücklichen Vater übergeben und die Helden versprachen, den Bauern mal wieder zu besuchen, was sie dann natürlich in einem anderen Abenteuer auch taten, denn für die Charaktere ist ein Abenteuer ja schließlich auch nicht einfach abgeschlossen. Die Erlebnisse beeinflussen ihr ganzes Leben und die Spieler haben stets Tagebücher geführt und wichtige Erlebnisse aufgeschrieben, damit sich ihr Charakter wirklich weiterentwickeln konnte und nicht nur leer im Raum hing. So haben am Ende der Rollenspielsitzung alle viel Spaß gehabt und die Spieler werden sich noch lange an diese gelungene Sitzung erinnern."

Der Junge konnte sich ein Gähnen kaum unterdrücken. "Mann, das ist ja 'ne total behämmerte Geschichte! Und die soll wirklich wahr sein?"

"Nein", sagte da Onkel Daniel mit ein wenig Wehmut in seiner Stimme. "Es war nur ein Märchen."


© 1997 / 2001 by Daniel "Worm" Benkmann

 

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